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Donnerstag, 2. November 2017

Irrungen und Wirrungen - von der Insel zum Festland und zurück


Die Reise von Oxford über Berlin und Leipzig zurück nach London und Oxford war in diesem Herbst eine politisch und kulturell besonders an- und aufregende Veranstaltung. Politisch, weil ich überall in Deutschland auf „den“ Brexit angesprochen wurde – und doch nichts Genaueres über die Entscheidungsträger berichten konnte. Schließlich erlebe ich in Großbritannien die unterschiedlichsten Reaktionen und Kommentare in den Medien (Pro Brexit: u.a. The Times, The Daily Telegraph; contra Brexit: The Guardian, I[ndependent]), die schließlich die Uneinigkeit über die Wege zum Verlassen der EU in der britischen Regierung und im Parlament in Westminster widerspiegeln. Eine klare Verhandlungsposition gegenüber den Verhandlungspartnern in Brüssel sieht anders aus. Die Reaktionen der Londoner Finanzwelt ist eindeutig für einen Verbleib in der EU, weil sie den Verlust ihrer globalen Vorrangstellung befürchtet. Ganz ähnlich, aber etwas vorsichtiger äußerte sich kürzlich die Chefökonomin des Industriellenverbandes CBI (weil sie die Stimmung nicht selbst vermiesen wollte) über die Sorgen in den anderen Wirtschaftssektoren des Vereinigten Königreichs. Das Problem Schottland ist fast völlig in den Hintergrund gerückt. Dafür ist – neben der Höhe der offenen Rechnung Großbritanniens - die Sorge um einen möglichen neuen Konflikt in den Vordergrund getreten, wenn Nordirland mit Großbritannien aus der EU ausscheiden und die angrenzende Republik Irland in der Europäischen Union verbleiben wird. In der alten Universitätsstadt Oxford, die seit Jahrhunderten aus allen Ländern qualifizierte Wissenschaftler angezogen hat, befürchtet eine große Mehrheit spätestens 2019 sowohl den Wegzug von EU-Akademikern als auch den Verlust von bisher sprudelnden EU-Forschungsmitteln. Fairerweise muss ich aber auch die kritischen Argumente von nachdenklichen Engländern wiedergeben, die auf die mangelhafte Legitimierung der EU-Bürokratie ebenso verwiesen haben wie auf ihr Unbehagen, das sie über den zunehmenden Verlust der britischen Souveränität innerhalb der EU empfinden. Hoffen wir, dass mit dem französischen Präsidenten Macron die notwendigen Reformen der EU angepackt werden. - Die Deutschen, die ich in Berlin und Leipzig sprach, schüttelten immer wieder den Kopf: Wie kann man nur aus einem so nützlichen gemeinsamen Markt aussteigen wollen? Wie kann eine sonst so vom Common Sense geprägte Nation sich so etwas antun? Ist in den britischen Köpfen nach zwei Weltkriegen die verbindende Idee der europäischen Schicksals- und Friedensgemeinschaft überhaupt angekommen? Vielleicht kommt man beim Grübeln über diese britische Gegenwartsmisere auf die Absurde in den Stücken von Samuel Beckett, dem großen Iren. Oder man versucht es mit der Interpretation der Aufforderung, die ich heute in dem OXFAM-Buchgeschäft in Oxford las: „Take my advice, I’m not using it.“
In der deutschen Universitäts- und Messestadt Leipzig macht man sich zwar auch Gedanken, wie es mit der rechtslastigen Alternative für Deutschland (AfD) weitergehen wird, nachdem sie erst in fast alle Landesparlamente und zuletzt in den Bundestag eingezogen ist. Aber im Gegensatz zu Dresden scheint man in Leipzig viel stärker immun gegenüber Rechts zu sein. In Leipzig blüht neben dem bürgerschaftlichen Engagement, seit 2002 verstärkt durch die Stiftung „Bürger für Leipzig“, eine Vielfalt sozialer und ökologischer Projekte. Und auf künstlerischem Gebiet können die Leipziger sehr gut mit den Dresdenern konkurrieren: So ist neben dem wiederbelebten Ballett unter Mario Schröder, der das Erbe des früh verstorbenen Uwe Scholz 2010 aufnahm, das Gewandhausorchester zu nennen. Es wird – leider mit Verzögerung - im Frühjahr 2018 in dem Letten Andris Nelsons einen würdigen Nachfolger von Riccardo Chailly haben. Der unermüdliche Ehrendirigent Herbert Blomstedt, der seinen 90. Geburtstag feiern konnte, meistert derweil eine große Tournee. Und das MDR-Sinfonieorchester hat bereits seit 2012 mit dem Esten Kristjan Järvi einen kompetenten Dirigenten gefunden. Auch an diesen beiden Beispielen sieht man, welchen – auch musikalischen - Gewinn die Europäische Union mit den baltischen Staaten erlebt.


Last but not least: Ein aktuelles Erlebnis war für mich und viele andere der Tag der Bibliotheken, der dieses Mal am 24. Oktober in Leipzig gefeiert wurde: Die Universitätsbibliothek Leipzig, immerhin schon 1543 gegründet, wurde als „Bibliothek des Jahres 2017“ ausgezeichnet. Als ihr ehemaliger Direktor konnte ich mich mit den Kolleginnen und Kollegen darüber sehr freuen. Was unter den Schlagwörtern „digital autonom, frei zugänglich und innovationsstark“ so gelobt wurde, ist im Internet ausführlich nachzulesen:  http://www.bibliotheksverband.de/dbv/auszeichnungen/bibliothek-des-jahres/preistraeger/2017.html
Damit ist es dieser ostdeutschen Universitätsbibliothek, die mit ihrem Hauptgebäude, der Bibliotheca Albertina, lange Jahre in der DDR-Zeit ein Kümmerdasein führen musste, gelungen, sich sowohl baulich und technisch als auch organisatorisch als eine der führenden deutschen Bibliotheken zu etablieren.
02.11.2017   
Ekkehard Henschke, Oxford/Berlin




Mittwoch, 30. August 2017

Eine immer kleinere, große Welt


Die Sommerpause geht zu Ende, die Geschwindigkeit auf dieser Erde nimmt wieder zu. Deshalb ein innehaltender Rückblick: Wir haben einen sogenannten mächtigsten Mann der Welt, den amerikanischen Wirrkopf als Präsidenten, der das Establishment seines Landes stürzen wollte und inzwischen von einem General mühsam zur Ordnung gerufen wurde. Wir haben eine britische Regierung, deren Premierministerin aus demokratischer Gesinnung (dem Brexit-Referendum des Vorjahres gehorchend) ihr Land von ein paar ultrakonservativen nordirischen Abgeordneten abhängig gemacht hat und nun zwischen Pragmatikern, darunter ihrem eigenen Finanzminister, und Brexit-Anhängern ihrer Partei, ihrem wirren Außenminister, hin und her pendelt. Dann gibt es den Charmeur unter den Europa-Freunden, den neuen dynamischen Präsidenten Frankreichs, der als Hoffnungsträger aller reformwilligen Europäer (und Franzosen) auftritt. Und dann haben wir noch zwei müde deutsche Wahlkämpfer, die in ihrer Einfallslosigkeit und Sattheit den deutschen Michel gut widerspiegeln. Und nur so „nebenbei“: Die Flüchtlingsströme und deren Ursachen sind immer noch nicht beendet, die Spreizungen zwischen Arm und Reich nehmen weiter zu. Ein atomarer Konfliktherd in Asien besteht nach wie vor. Eine Vorstellung, wie man den Verführungen junger Menschen zum islamistisch geprägten Terrorismus begegnen kann, gibt es auf westlich-christlicher Seite auch noch nicht. Von den sichtbaren Folgen der menschengemachten Klimaveränderungen, die der leugnende amerikanische Präsident sich jüngst selbst ansehen musste, ganz zu schweigen. Bei all diesen Problemen darf man eigentlich nur zweifelnder Optimist sein und muss man sich auf die Seite der kritischen Denker und Lenker schlagen…

Als Deutscher, der die Welt (wie im Frühjahr Süd- und Mittelamerika) bereist und von der Insel aus beobachtet, war ich zunächst sehr enttäuscht von dem Ausgang des britischen Referendums. Wo war der sprichwörtliche britische Common Sense geblieben? Hatte sich Traditionsbewusstsein mit unterschiedlichsten ökonomischen Egoismen tatsächlich mit einer Inselmentalität verbunden – gegen Weltoffenheit und Einsicht, dass nur Einigkeit in einer immer diffuser werdenden Welt stark macht? Tausend und mehr Fragen werden seit dem Entscheid einer knappen Mehrheit – gegen die Jungen und die Klugen, die die Minderheit bildeten und die Folgen zu (er)tragen haben werden – in der Öffentlichkeit diskutiert.

Darüber möchte ich nicht persönliche Verluste vergessen: Dazu zählt der Tod meines väterlichen Freundes Theodor Bergmann, der im 101. Lebensjahr sein Leben als weltoffener Sozialist, jüdischer Deutscher und Zeitzeuge in Stuttgart beendete; vgl. die Würdigungen: https://www.rosalux.de/news/id/37448/ohne-widerspruch-kein-fortschritt/

Einen Gewinn dagegen bedeutete die Lektüre der Autobiographie des immer unbequemen Dichter-Sängers Wolf Biermann, „Warte nicht auf bessre Zeiten“. Sie stellt eine wahrlich aufregende Zeitreise durch die jüngste deutsche Geschichte dar – zwischen Ost und West. Sie ist sowohl Ausdruck egozentrischer Details der Kultur in Deutschland als auch Denkmal kritischer Freundschaften, wie sie sich vor und nach Biermanns Ausbürgerung von 1976 entwickelten, die sowohl den Lebensnerv dieses Heine-Nachfolgers als auch letztlich den der bieder-verstockten DDR-Oberen traf. Zusammen mit den abgedruckten Gedichten zeigt Biermanns Lebensgeschichte den deutschen Fluss der Geschichte mit seinen oft schmutzigen Mäandern, aber dies nicht ohne Witz und Selbstironie. Seine Begegnung mit der französischen Kultur war dabei hilfreich.
Nachdem ich nun die Welt erklärt habe, kommt zum Abschluss ein Lob an alle Lernbegierigen und Aufklärenden, insbesondere an die Bibliothekare und Bibliothekarinnen der Universitätsbibliothek Leipzig: Gratulation zu der Auszeichnung als „Bibliothek des Jahres 2017“! Zwölf Jahre sind es her, seitdem ich diesen sächsischen Wissensspeicher verlassen habe – am Anfang der IT-Revolution. Schauen Sie selbst, wie sich die UBL zu dieser international wirkenden Leipziger Institution weiterentwickelt hat: “Digital autonom, frei zugänglich und innovationsstark!“


30.08.2017   

Samstag, 25. März 2017

Die europäische Ordnung droht zu zerfallen; Trump regiert, und die Satiriker freuen sich


Seit dem letzten Blogeintrag hat sich Einiges verändert: Bei dem Referendum am 23.06.2016 hatten sich 52 % der Briten für den Ausstieg aus der Europäischen Union gestimmt. Folgerichtig wird die neue Premierministerin Theresa May am 29. März 2017 in Brüssel der EU-Kommission dies offiziell mitteilen und die Verhandlungen dafür eröffnen.

In den Monaten dazwischen gab es auf beiden Seiten des Ärmelkanals heftige Diskussionen über die jeweiligen Vor- und Nachteile. ZEIT-Online fasste die Probleme jüngst kurz zusammen: http://www.zeit.de/politik/ausland/2017-03/brexit-artikel-50-europaeischer-vertrag-theresa-may-antrag/komplettansicht

Nicht nur Schottland, Nordirland, die britischen Großstädte wie z. B. London stimmten gegen den Brexit. Auch Wirtschaftsverbände, die City of London und die Hochschulen warnten vor den Folgen.
Hinzu kommt der schwelende Konflikt innerhalb der britischen Union mit Schottland und Nordirland. Die Premierministerin von Schottland möchte noch vor Abschluss der Verhandlungen mit der EU ein zweites Referendum in der Erwartung, dass ihre Landsleute für den Verbleib in der EU und damit für das Verlassen des Vereinigten Königreiches plädieren werden. In Nordirland beginnt gegenwärtig eine ähnliche Diskussion, allerdings mit dem Ziel, sich mit der Republik Irland endlich vereinigen zu können.
Das stärkt nicht gerade die Verhandlungsposition der britischen Premierministerin in Brüssel.
Die EU selbst ist auch nicht von Einigkeit geprägt: Rechtspopulistische, konservative Regierungen in Ungarn und Polen machen Brüssel das Leben ebenso schwer wie die Türkei, die einmal als Beitrittskandidat betrachtet wurde, unter Präsident Erdogan aber ein autoritäres Regime etablieren will. Da die EU weitere Flüchtlingswellen aus Nah- und Mittelost verhindern will, ist sie von dem Wohlwollen der Türkei abhängig. Die starken rechten Kräfte in Frankreich, die mit der europafeindlichen Marine Le Pen sogar den nächsten Präsidenten stellen könnten, drohen die EU ernsthaft zu sprengen.

Obendrein droht Gefahr für die EU auch von den USA, wo der neue populistische Präsident Donald Trump zum Schrecken nicht nur der amerikanischen Intellektuellen dabei ist, das Gleichgewicht der Kräfte (Jurisdiktion, Legislative, Exekutive) mit einsamen Twitter-Botschaften durcheinander zu bringen und soziale Errungenschaft wie Obamas Medicare wieder rückgängig zu machen. Seine Absicht, mit dem Slogan „America first“ das empfindliche Netz der internationalen Wirtschaftsbeziehungen durch protektionistische Maßnahmen zu zerstören, würde nicht ohne politische Folgen für alle, vor allem die EU und China, sein. Es sollte nicht wundern, wenn sich dieser Präsident eben wegen seines Kampfes gegen das Establishment in relativ kurzer Zeit selbst aus dem Amt katapultieren würde.


Immerhin hat die gegenwärtig labile Lage auch ihre positiven Seiten. Nicht zuletzt für die Kabarettisten weltweit. Sie bekommen in und durch Trump, der wie ein Laienschauspieler in einer Realsatire wirkt, laufend neuen Stoff für Theatersatire.