Peter Hinke ist in Leipzig, Sachsen, und darüber hinaus eine Institution im deutschen Literaturbetrieb. Ebenso wie er erlebten viele Leipziger mit Entsetzen die Protestdemonstration der sogenannten "Querdenker" und Anderer im Zentrum der weltoffenen Messe- und Universitätsstadt am Samstag, dem 07.November 2020:
"...unser schon seit 2002 bestehender Literaturkurier ist kein politischer Wochenbrief und natürlich schreiben wir am liebsten über gute Bücher, doch durch unser Alltagsleben sind wir ständig mittendrin in den lokalen Ereignissen, die uns und unsere Arbeit beeinflussen. Wie eben jene Demonstration am vergangenen Wochenende, die quasi vor unseren Türen stattfand. Eigentlich sind wir einigermaßen gestählt, aber eine Veranstaltung wie diese hatten wir bislang noch nicht erlebt. Die Stadt wurde geflutet von Menschen aus ganz Deutschland, die sich aus verschiedensten Strömungen zusammensetzten und die eins einte: Der Protest gegen Coronamaßnahmen und gegen die vermeintlich bestehenden ungerechten Verhältnisse in diesem Land. Die Stadt war gefühlt so voll wie zuletzt 1989, es gab kaum freie Flächen. Es waren Menschen mit Friedenssymbolen, Anhänger christlicher Gemeinschaften, normale Bürger - darunter viele eventorientierte Reisegruppen aus anderen Bundesländern - die neben ebenfalls zahlreich erschienenen Verschwörungstheoretikern, Rechten, Hooligans und Reichsbürgern die Stadt bevölkerten. Es waren tatsächlich eher 40.000 statt 20.000 Menschen und es herrschte eine von Reden befeuerte und überdrehte Volksfeststimmung.
Wir
schlossen gegen Mittag die Buchhandlung im Specks Hof, nachdem wir
immer wieder von Besuchern aufgefordert wurden, im und außerhalb des
Geschäftes auf die Maskenpflicht zu verzichten. Es war für uns eine
unheimliche, teilweise bedrohlich wirkende Erfahrung. Gegen Abend
begegnete mir am Brühl ein großer Strom von Menschen, die netten Nachbarn
glichen oder gar den eigenen Eltern. Sie hatten keine Masken, sie
trugen Plakate, darauf Politiker in Sträflingsuniformen, sie skandierten
"Wir sind das Volk!" und "Keine Diktatur", später sah man sie bei einer
Polonaise feiernd in der Grimmaischen Straße. Ich selbst sah nette
junge Mädchen von nebenan mit Kerzen, Seite an Seite mit stolz
beflaggten Nazis, als wäre es eine Selbstverständlichkeit, aber auch von
einer größeren Menge der Demonstranten beklatschte Gewalt gegen Polizei
und Auseinandersetzungen mit Teilnehmern der kleinen Gegendemo. Die
präsente Polizei war nur noch Begleiter, hatte praktisch kapituliert. -
Nun sind einige Tage vergangen und noch immer überwiegt Wut und Scham,
wenn wir daran denken, daß gerade Leipzig Ort dieser Ereignisse wurde. Im
Bemühen um eine eigene Aufarbeitung des Gesehenen stellte ich einen
Brief an den letztlich auch von mir gewählten Oberbürgermeister unserer
Stadt auf unsere Internetseite, um herauszufinden, ob man dies alles
nicht hätte verhindern müssen. Aber
mir selbst ist klar, dies sind letztlich alles nur hilflose Versuche,
mit dem Geschehenen umzugehen. In diesem Rahmen hier, und weil unser
Kurier auch außerhalb der Stadt seine LeserInnen hat, wollte ich diese
Gedanken und Eindrücke noch einmal formulieren und teilen. Wohlwissend,
daß wir alle kritisch über Corona oder die entsprechenden Maßnahmen
denken und vielleicht auch inhaltlich verschiedener Meinung sind. " (zit. im "Literaturkurier" der Connewitzer Verlagsbuchhandlung vom 12.11.2020).
Die Medienberichte, darunter das u.a. YouTube-Video, zeigen die irritierenden Verhaltensweisen von verschiedenen, auch rechten Gruppierungen sowie der Polizei:
https://www.youtube.com/watch?v=1LQ-5h40ycc
Verständlich: Leipzig und seine Bewohner lassen sich nicht ihren Ruf als Stadt der friedlichen Revolution von 1989 ramponieren. Sie lassen sich nicht von Leugnern des Virus und erst recht nicht von mitmarschierenden Rechtsradikalen ihre Meinung aufzwingen. Wie die meisten Deutschen diskutieren sie staatlichen Maßnahmen, versuchen aber auch in schwieriger Pandemiezeit sich und andere vor Ansteckung, Krankheit und Tod zu schützen. - Das politische und juristische Nachspiel hat schon begonnen.
Ekkehard Henschke, 14.11.2020