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Sonntag, 20. Dezember 2015

Weihnachtsoratorium oder Messias?

Am Ende eines von menschlicher Gewalt und Verzweiflung, aber auch Hoffnung und Liebe geprägten Jahres bin ich wieder zu den großen Meistern deutscher Musik zurückgekehrt. Sowohl Johann Sebastian Bach als auch Georg Friedrich Händel haben mit ihrer geistlichen Musik auch Nichtgläubigen große Geschenke gemacht. 
Während in Deutschland das „Weihnachtsoratorium“ von Bach - am eindrücklichsten gehört vom Thomanerchor in der Leipziger Thomaskirche – das im Dezember am meisten gespielte Stück ist, freut man sich in Großbritannien auf den „Messias“ von Georg Friedrich Händel. Händels Oratorium wurde 1742 in Dublin uraufgeführt. Beide Komponisten, die im gleichen Jahr 1685 geboren wurden, sind sich leider angeblich nur fast begegnet.
Während Bach im mitteldeutschen Raum (insbesondere in Eisenach, Köthen und Leipzig, wo er 1750 starb) wirkte, war der mit Georg Philipp Telemann befreundete Händel ein Mann von Welt. Er stammte aus Halle an der Saale, bereiste Italien und wies Hamburg, Berlin, Dublin und vor allem London, wo er 1759 starb, als Stationen seines Wirkens auf. Im Gegensatz zu Bach war Händel auch ein recht wohlhabender Komponist.

Hier eine Kostprobe des „Messias“ im King’s College, Cambridge:


Mozart und Beethoven, vor allem aber Felix Mendelssohn Bartholdy waren es, die die innovative Musik Bachs nach einer Zeit des Vergessens wieder ins Bewusstsein gehoben haben.

Möge bei all dem menschlichen Elend, das gegenwärtig die vielen Flüchtlinge in Europa erleben müssen, Bachs Weihnachtsoratorium musikalisch Mut machen zur Solidarität. Die Aufnahme mit dem Leipziger Thomanerchor, die etwas älter ist, wurde jedoch nicht in der Thomaskirche aufgenommen (bitte anklicken):


Das Innere der gotischen Thomaskirche in Leipzig, in der auch J.S. Bach begraben ist:


Ein schönes Weihnachten und ein gutes neues Jahr 2016 wünscht

Ekkehard Henschke

20.12.2015

Mittwoch, 22. Juli 2015

Eine griechische Tragödie, der Chor der internationalen Medien und deutsche Empfindlichkeiten


Wir haben die griechische Tragödie[1], in Brüssel aufgeführt, sehr intensiv und extensiv durch die Medien miterlebt, auch den Zorn einiger Staaten, besonders Griechenlands, auf Deutschland. Bei dem europäischen Versuch, Griechenland vor dem wirtschaftlichen Kollaps zu retten, scheint es so auszusehen wie im Privaten: Bei Geld hört die Freundschaft auf. Fest steht: Wie so häufig müssen auch in Hellas in erster Linie die kleinen Leute leiden, während die Wohlhabenden rechtzeitig ihr Geld in Sicherheit bringen konnten. Wie also können in den nächsten Wochen und Monaten der Kollaps und die politischen und sozialen Folgen verhindert werden?

Die Höhe der angelaufenen griechischen Schulden ist einfach zu hoch, als sie von diesem Land allein geschultert werden könnten. Viele Fehler sind von allen Seiten in den letzten Jahren gemacht worden, von den Gläubigern und dem Schuldner Griechenland. Angesichts des aufgezwungenen Sparkurses erheben sich berechtigte Fragen: Wie soll die griechische Wirtschaft jemals wieder wachsen können, wenn der Kapitalverkehr stark eingeschränkt ist, die griechischen Banken nicht voll funktionieren können, der Zahlungsverkehr und die Kreditvergabe an kleine und mittlere Unternehmen dort nicht möglich ist. Durch Anhebung der Mehrwertsteuer verteuern sich in der Regel die Preise. Gleichzeitig muss der Staat sparen (insbesondere durch Entlassungen, Reduktion der Renten, Kürzungen der Verteidigungsausgaben). Wie will man die weitere Drosselung der Binnennachfrage vermeiden – neben dem Rückgang beispielsweise der so wichtigen Einnahmen durch den Tourismus? Wie will man die Steuerehrlichkeit der Griechen fördern, wenn man dort – ohne effiziente Finanzverwaltung – die großen potentiellen Steuerzahler verschont? Will man wirklich die junge, intelligente Generation Griechenlands, die in Folge jahrelanger politischer Versäumnisse in die Arbeitslosigkeit getrieben wurde, in die nördlichen Euroländer vertreiben, wo sie gern aufgenommen würden? Fragen über Fragen, die immer wieder zu der Forderung nach einem Schuldenschnitt führen. Auch wenn sich bisher die Erkenntnis noch nicht durchgesetzt hat: Ohne einen Schuldenschnitt (Englisch: „haircut“), d.h. ohne den Verzicht der öffentlichen und privaten Gläubiger gegenüber Griechenland, bei gleichzeitiger, kontrollierter Durchsetzung von Reformen in Griechenland ist die (Er)Lösung von der griechischen Tragödie nicht möglich. Als stärkste Wirtschaftsmacht in der Eurozone ist hier Deutschland, das bisher den europäischen Gedanken besonders unterstützt hat, auch besonders gefordert.
Schade und unfair war es, dass nicht alle Fakten in den vergangenen Wochen genannt wurden. Insbesondere die deutsche Seite hat Einiges schlecht kommuniziert, z.B. dass Wolfgang Schäuble, ein Schwabe und deutscher Finanzminister,  häufig als böser Bube  (oder noch schlimmer) betitelt, erst vor wenigen Jahren mit Mühe die sogenannte Schuldenbremse durchgesetzt hat. Sie bedeutet, dass es in Deutschland dem Bund und den einzelnen Ländern gesetzlich verboten ist, in „normalen Zeiten“ Schulden zu machen. In Deutschland hat es Schäuble auch erreicht, dass 2015 erstmals keine neuen Schulden im Staatshaushalt des Bundes („Schwarze Null“) gemacht wurden. Er mag sich vielleicht sogar noch vage an seinen Vorgänger, den Bundesfinanzminister Fritz Schäffer erinnern, der in den 1950er Jahren einen “Julius-Turm“[2], die thesaurierten Überschüsse des Bundeshaushaltes“ (8 Milliarden D-Mark = ca. 35  Milliarden Euro heute), zusammensparte.- Ein noch Wichtigeres kommt hinzu: Die fortdauernde Sorge im Langzeitgedächtnis der Deutschen, dass es wieder eine Inflation – wie in den 1920er Jahren - geben könnte. Die Regierung Helmut Kohl hatte sich aus politischen Gründen (um die europäische Einigung voranzutreiben)  von der D-Mark getrennt und die gemeinsame europäische Währung, den Euro, zusammen mit anderen Ländern im Jahre 2002 eingeführt. Bis heute trauern viele Deutsche der damaligen, stabilen D-Mark nach. Das sind wichtige (Hinter)Gründe, warum Schäuble und Merkel so hart mit den Griechen verhandelten. Viele Regierungen, auch die konservative britische,  sind gegenwärtig mit der Konsolidierung ihrer Haushalte beschäftigt. Die hohe Kunst besteht darin, die Schulden abzubauen und die Wirtschaft zu fördern, ohne dabei politische und soziale Verwerfungen zu produzieren.
Fast völlig ausgeblendet wurde in der bisherigen deutschen Diskussion, dass Westdeutschland nach 1945 umfangreiche Hilfe insbesondere von den USA erhielt und wie die alte, reiche Bundesrepublik der maroden Wirtschaft der neuen, aber armen Bundesländer ab 1990 ganz massive finanzielle und personelle Hilfe gewährte. Erst auf diese Weise konnten in den vergangenen 25 Jahren zwar keine „blühenden Landschaften“, aber eine weitgehende Gesundung der ostdeutschen Wirtschaft mit moderner materieller und institutioneller Infrastruktur erreicht werden. Insofern sollten bei den künftigen Verhandlungen mit der griechischen Regierung auch die deutschen Erfahrungen mit einer Transfer-Union im europäischen Rahmen eingebracht werden. Es geht auch, aber eben nicht nur um den Euro.

Angesichts so vieler Probleme, die in Europa zu lösen sind – Süd-Nord-Migration, eigene demographische Entwicklung, Umweltprobleme, Ukraine-Konflikt - , muss sich Europa auf den alten Erfahrungssatz besinnen: Nur Einigkeit macht stark. Es geht um das gemeinsame, auch von Griechenland mit erbaute europäische Haus.

22.07.2015/EH



[1] Daten zur griechischen Staatsschuldenkrise bei Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Griechische_Staatsschuldenkrise 
[2] Zum „Julius-Turm“, nach Herzog Julius von Braunschweig-Wolfenbüttel genannt, in Berlin-Spandau vgl. Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Juliusturm

Dienstag, 12. Mai 2015

Ein wenig Poesie

Die Nachrichten über Erdbeben, Konflikte, Spionage unter Freunden und andere große und kleine Probleme lassen uns oft vergessen, dass es die Kunst, die Musik und die Literatur noch gibt, die uns erheben kann. Hier ein kleines Beispiel dafür von Ruth Stumme (1917-2006). 

Nach dem Sturme


Als ich vom Schlaf erwachte,

war der Sturm verrauscht.

Und aus des Himmels

regenschwerem Grau

schien mir die Sonne,

und ein kleines Blau

erhellt’ den Tag. –

Es ließ ihn wachsen

bis zum Firmament,

an dem nun

deines Herzens Wärme brennt.


Montag, 13. April 2015

Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und unsere Umwelt

Theodor Bergmann zum 99. Geburtstag am 07.03.2015

For British and German readers please start with these pictures:

http://www.theguardian.com/global-development-professionals-network/gallery/2015/apr/01/over-population-over-consumption-in-pictures?CMP=EMCNEWEML6619I2

Human rights and our environment. Where are today's risks and how to handle them? 

Gedanken zu diesem gewaltigen Thema kreisen um die Frage: Was für eine Welt hinterlasse ich eines Tages meinen Kindern und Kindeskindern? Wie sieht sie gegenwärtig aus, und was ist angesichts der Fülle von Problemen zu tun?
Wachstumsfetischismus und Weltrisikogesellschaft
Bei der Diskussion dieser beiden Problemkreise gehe ich von zwei Überlegungen aus: Zum einen, dass im Zeitalter der Globalisierung alles ökonomische, politische und ökologische Geschehen weltweit positiv wie negativ miteinander verbunden ist. Ich habe dabei das Prinzip der kommunizierenden Gefäße vor meinem inneren Auge. Zweitens, dass die aus diesem Geschehen erwachsenden Gefahren in der Regel von Menschen gemachte Gefahren sind. Es sind Risiken, die auch von uns Menschen weltweit gemeinsam auf den verschiedensten Ebenen bewältigt werden können. 
Ich komme damit auf das, was der jüngst verstorbene Soziologe Ulrich Beck, der in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren auch kurz in Stuttgart-Hohenheim gewirkt hat, mit seinen Darstellungen zur Risiko- bzw.Weltrisikogesellschaft uns vor Augen geführt hat.  Er hat gezeigt, dass wir aufgrund des technisch-naturwissenschaftlichen Fortschritts zunehmend dessen Folgen ausgesetzt sind und diese wiederum die Risiken von Katastrophen beinhalten; dass die Risiken nicht mehr nur lokaler, nationaler oder kontinentaler Art sind, sondern inzwischen globaler Natur geworden sind; dass sie auch nicht mehr auf bestimmte Klassen, Schichten, auf Arm oder Reich begrenzt werden können, sondern uns alle auf diesem Planeten betreffen. Ich meine insbesondere die Gefahr atomarer und klimatischer Katastrophen, die räumlich und zeitlich potentiell unbegrenzt sind. An Szenarien dazu hat es keinen Mangel. An konkreten Fällen leider auch nicht.
Angesichts der noch immer dominierenden Ideologie des ungebremsten Wirtschaftswachstums plädiert Beck daher wie viele andere Wissenschaftler[1] vor ihm für eine „Gesellschaft des Weniger“.
Das Szenario für 2015
Es gibt viele wissenschaftliche Untersuchungen aus allen Himmelsrichtungen darüber, welche Gefahren die weitere Vernachlässigung der natürlichen Umwelt haben wird und was diese auch für das friedliche Zusammenleben aller in Freiheit, Gleichheit und Solidarität bedeuten. Anfang 2015 konnten wir den zehnten Bericht des Weltwirtschaftsforums lesen. Er befasst sich mit den zwei globalen Risiko-Blöcken, die in diesem Jahr 2015 erwartet werden und auf die es zu reagieren gilt: Zum einen werden die globale Risiken genannt, die eine gewisse Wahrscheinlichkeit haben: Dazu gehören in erster Linie zwischenstaatliche Konflikte (Ukraine), extreme Wetterereignisse, Versagen nationaler Staaten oder gar deren Zusammenbrüche (Griechenland) und die strukturelle Arbeitslosigkeit (südeuropäische Länder). Zu den weltweiten Risiken, die eine nachhaltige Wirkung haben, zählt der Bericht an erster Stelle das gesellschaftliche Problem der Wasserkrisen, dann die schnelle und starke Verbreitung von Infektionskrankheiten (Ebola), ferner die Massenvernichtungswaffen, aber auch die zwischenstaatlichen Konflikte mit ihren regionalen Folgen und – last but not least - das Ausbleiben von Reaktionen auf den Klimawandel[2]. Durchgehend verweist der Bericht auf die Möglichkeiten, diese Risiken durch weltweite Kooperation zu verringern. Über das internationale Kyoter Protokoll zum Klimaschutz soll Ende dieses Jahres wieder verhandelt werden. Die bisherigen Ergebnisse stimmen eher skeptisch.
Was bedeutet das Szenario für die Wahrung der Menschenrechte?
Was hat dies mit den Schlagwörtern der bürgerlichen Französischen Revolution „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ zu tun, die nun schon 226 Jahre zurückliegt? Sehr viel, weil wir als Individuen sehr aufpassen müssen, dass die errungenen individuellen Menschenrechte nicht unter globalen oder nationalen sogenannten Sachzwängen (z. B. Wirtschaftswachstum > Arbeitsplätze) unter die Räder geraten. Zu der Frage der Freiheit: Es heißt immer so schön: Freiheit zu leben, zu lieben, zu reden, sich zu versammeln. Dies alles schön im Rahmen der geltenden Gesetze. In den rechtstaatlich und demokratisch  organisierten Staaten wachen formal die obersten Verfassungsrichter darüber, dass die Gesetze und deren Anwendung mit den verbrieften Freiheitsrechten konform gehen. Wie sieht es aber aus, wenn es zu einem Zusammenprall der Kulturen kommt? Ich denke dabei an die Auseinandersetzungen um den Islamischen Staat. Ist die Anerkennung der Menschenrechte ein dauerhaftes Ergebnis von nur europäischen geschichtlichen Erfahrungen und abendländischer Ethik? Gilt noch  „Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden“?
Wie hoch das Risiko der Freiheit sein kann, haben wir durch das Massaker an den Journalisten der Pariser satirischen Zeitschrift „Charlie Hebdo“ gesehen, die die Meinungsfreiheit in Anspruch nahmen und von Islamisten bestraft wurden. In der gesamten westlichen Welt sind zu Recht die Menschen auf die Straße gegangen, um ihre Sympathien für die Journalisten und den Protest gegen die Einschränkung der Meinungsfreiheit durch religiöse Gruppen zu artikulieren. Eine andere Gefahr für die Freiheit des Einzelnen kommt genau von der Seite, die diese zu schützen hat: Vom Staat und seinen „fürsorglichen“ Organisationen. Spätestens seit den Terrorakten von 2001 erleben wir zunehmende Bemühungen der westlichen Regierungen, zur Abwehr von Terroristen eben diese Freiheiten einzuschränken. Ich denke an die Spionageorganisationen NSA der Amerikaner, GCHQ[3] der Briten und an den BND von uns Deutschen und an deren Wünsche, ungehinderten Zugang zu persönlichen Daten zu bekommen. Ich habe in Oxford den ehemaligen Direktor der NSA, Michael Hayden, erlebt, der in verführerischen Worten für die breite digitale Überwachung der Bevölkerung der westlichen Länder plädierte, um der weltweiten Gefahr des Terrorismus, insbesondere der Islamisten, Herr zu werden. Die Enthüllungen des IT-Spezialisten Edward Snowden haben das ganze Ausmaß der bereits bestehenden Überwachung aufgezeigt. Er ist das persönliche Risiko eines amerikanischen, gut bezahlten Computerspezialisten und Verfassungspatrioten eingegangen und hat sich bei seinen Enthüllungen auf die amerikanische Verfassung mit ihren Menschenrechten bezogen. Der amerikanische Leviathan droht ihn zu verschlingen, ins Gefängnis zu werfen dafür, dass er sich ganz konkret für die Wahrung der Menschenrechte  eingesetzt hat. Allerdings sitzt er nun in der Falle in Moskau. Es ist erschreckend, wie relativ gering die öffentliche Reaktion war. Die Journalisten als „die vierte Gewalt“ sind sich der Gefahren am ehesten bewusst und polemisieren gegen entsprechende Regierungsvorschläge, aber wer ist schon für Snowden und gegen die Überwachung durch NSA, GCHQ und BND auf die Straße gegangen? Auch der tapfere Hans-Christian Ströbele, unser grüner Mann mit dem roten Schal, der Snowden in Moskau traf, hat für ihn kein Aufenthaltsrecht in Deutschland durchsetzen können – weil unsere amerikanischen Freunde ihn nicht als Verfassungspatrioten sondern als international gesuchten Verräter suchen.
Gleichheit ist ein nicht minder wichtiges Menschenrecht. Nicht erst seit der umfangreichen Arbeit des französischen Ökonomen Thomas Piketty über „Das Kapital im 21. Jahrhundert“[4] wissen wir von den vielen Formen von Ungleichheit auf diesem Planeten. Aufgrund eines umfangreichen Datenmaterials, das für einige westeuropäische Staaten und die USA bis ins 19. Jahrhundert zurückgeht, gelangt er zu einigen „fundamentalen Gesetzen des Kapitalismus“. Für den allgemeinen Anstieg der Ungleichheit macht er die Tatsache verantwortlich, dass das Einkommen aus Kapital (ca 5 %) dauerhaft das Einkommen durch Arbeit (maximal 1,5 %) übersteigt. Aufgrund der daraus folgenden Konsequenzen für die einzelnen  Volkswirtschaften und die Weltwirtschaft und ihre Menschen fordert er Umverteilung, um Ungleichheiten abzumildern, die der Marktprozess schafft, u.a. durch eine stärkere Besteuerung von Kapital sowie verstärkte Regulierung der Kapitalmärkte.
Was sind die konkreten Folgen von Ungleichheit? Fast täglich erleben wir über die Medien, wie Menschen aus armen Gegenden Nordafrikas versuchen, in die reichen europäischen Länder zu gelangen. Die gegen den Hunger in der Welt ankämpfende Organisation OXFAM hat erst kürzlich in ihrem Bericht die sich verschärfende Ungleichheit der Lebensbedingungen in Ost und West, in Nord und Süd konkret nachgewiesen[5]. Allein in der Zeit von 2009 bis  2014, als viele Länder unter Rezession, wachsender Arbeitslosigkeit, sozialen Kürzungen und fallenden Realeinkommen litten, hat sich die Zahl der Milliardäre verdoppelt.  Auch OXFAM plädiert deshalb für höhere Besteuerungen aus Kapitaleinkommen und Regulierung der Kapitalmärkte, um weltweit individuelles Überleben, Leben und Wohlstand zu erreichen. Einige hier in diesem Kreis haben sicherlich wie ich die Bilder von den Zuständen in asiatischen Slums vor Augen[6]. Allein, wenn auf das Vermögen der Milliardäre 1,5 % Steuern erhoben würden, könnte man laut  der OXFAM-Studie mit den jährlich eingenommenen  74 Milliarden  Dollars jedem Kind in den ärmsten Ländern der Welt schulische Bildung und Gesundheitsfürsorge ermöglichen.
Brüderlichkeit ist bekanntlich der Zwillingsbruder der Gleichheit. Solidarität mit den Benachteiligten ist die Forderung nach Aufhebung von Ungleichheit. 
Ein zu schwacher Trost sind da die philanthropischen Bemühungen, wie sie z. B. der ehemalige Microsoft-Gründer Bill Gates und der Spekulant Warren Buffet im Rahmen ihrer Initiative „The Giving Pledge“[7] und ihrer Stiftungen machen.
Was kann, was muss getan werden?
Die Erkenntnisse der Wissenschaftler – ich denke in Deutschland auch an den einst in Wuppertal arbeitenden kritischen Naturwissenschaftler Ernst Ulrich von Weizsäcker[8] und an den Wirtschaftswissenschaftler Uwe Schneidewind[9] -  und deren Wirken in der Öffentlichkeit ist ein mühsames und langsames Geschäft. Wer aber sollte Korrekturen an Fehlentwicklungen durchführen, wenn nicht die Politiker? Und die denken und handeln wiederum meist nur in vier- oder fünfjährigen (Wahl-)Perioden. Nicht selten sind sie fremden, kontraproduktiven  Einflüssen erlegen.  Als dritte Möglichkeit der Korrektur sehe ich die durch Protestbewegungen. Ähnlich wie die engagierte kanadisch-israelische Sozialistin Naomi Klein[10] sehe ich die Notwendigkeit, auch durch öffentlichen Druck die Politik zu bewegen. Vor allem von dem fatalen Glauben an das notwendige unbegrenzte Wachstum muss sich die Politik lösen. Dessen Folgen sehen wir in Gestalt schwindender natürlicher Ressourcen und dramatischer Klimaveränderungen. Und diese drohen fatal für die  Menschheit zu werden. Dagegen, gegen neoliberale Wirtschaftspolitik, setzen alternative Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler spätestens seit den Aktivitäten des Club of Rome ihre Vorstellungen von Wachstumsrücknahme (DeGrowth). Das Ziel einer entsprechenden Umsteuerung durch eine auch solidarische Ökonomie heißt qualitatives (anstelle von quantitativem), selektives (besonders wertvolle Sektoren betreffendes) und nachhaltiges Wachstum, das im Rahmen demokratischer und solidarischer Strukturen erreicht werden soll. 
Das bedeutet natürlich eine massive Kapitalismuskritik und reichlich Widerstände. Trotz des notwendigen öffentlichen Drucks auf die Politik:  Meiner Meinung nach kann es keine revolutionären Lösungen geben, sondern angesichts der globalen Vernetzung der Volkswirtschaften nur gemeinsame evolutionäre Lösungen. Einseitige oder revolutionäre Lösungen würden das ganze, ohnehin labile System der Weltwirtschaft zu Lasten aller gefährden. Ein kleines Beispiel, wie schwierig so etwas in einem Land mit einer dominierenden Finanzwirtschaft ist: Ich habe vor zwei Jahren zufällig eine Sitzung des englischen Oberhauses erlebt, in der über die Regulierung der britischen Banken diskutiert wurde. Die Resultate allein für die Londoner City, Zentrum der britischen und weltweit agierenden Finanzwirtschaft, sind jedoch bisher dürftig gewesen. Steuerflucht gerade der Reichen und wieder anschwellende Kreditblasen machen staatliches Eingreifen aber notwendig. Deshalb kann auch das Problem der britischen Finanzwirtschaft nur im Rahmen von Verhandlungen innerhalb der Europäischen Union gemeinsam gelöst werden.
Wie wir in den vergangenen Jahren erlebt haben, gibt es durchaus Möglichkeiten, auf evolutionäre Weise politische, soziale und wirtschaftliche Verhältnisse zu verändern. Ich denke an die Bürgerbewegungen mit Petitionen  und Volksentscheiden[11], auch an die sehr diskussionsbedürftige Pegida-Bewegung und natürlich an die alte Antiatomkraft-Bewegung, die zumindest im Unterbewusstsein der Deutschen geblieben ist und traurigerweise durch die Reaktorunfälle in Japan späte Erfolge gehabt hat und zur Energiewende beigetragen hat. Und ich denke an die großen technischen Fortschritte im Bereich der erneuerbaren Energien, die auch in Schwellenländern wie China und Indien z.T. bereits genutzt werden. Die Leugnung des Klimawandels wie jüngst im amerikanischen Kongress (im Zusammenhang mit einer Riesen-Pipeline) ist und bleibt hoffentlich nur ein welthistorisches Kuriosum.
Wie kann jetzt schon gehandelt werden?
Hier können wir auf bewährte solidarische Werkzeuge in der Wirtschaft zurückgreifen, insbesondere auf das Instrument der Genossenschaften. In den 1970er und 1980er Jahre gab es in Deutschland eine Gründungswelle im Bereich der alternativen Ökonomie, aber auch Rückschläge (Neue Heimat). Im Ausland, z.B. in Brasilien, entstanden die Kooperativen. Aber auch Kraftakte der Politik der jüngsten Zeit sind möglich. In Deutschland kann man gegenwärtig die Bemühungen verfolgen, wie auf regionaler und lokaler Ebene die von der Bundesregierung initiierte schwierige Energiewende umgesetzt werden kann. „Weg von der Atomenergie, hin zur emissionsfreien Energieerzeugung“ ist ein großer Kraftakt. Er hat eine Fülle von regionalen und lokalen Initiativen verstärkt freigesetzt, die sich auch ökonomisch rechnen. Dabei wird man sich allerdings auch zunehmend bewusst, welche ästhetischen und letztlich wirtschaftlich-sozialen Probleme man sich mit der Einführung erneuerbarer Energieerzeuger wie Windkraftwerke und Photovoltaikanlagen einhandeln kann, aber auch welch interessante Variationen es inzwischen gibt. Dazu lohnt auch mal ein Blick aus der sogenannten Froschperspektive. Große Dinge müssen nicht nur von  Staaten und erst recht nicht von global operierenden Unternehmen oder einigen philanthropisch gesinnten Superreichen geschehen. An vielen Orten kann man bürgerschaftliches Engagement für den Umweltschutz entdecken.
Die vom Menschen gestaltete Kulturlandschaft wird kritisch betrachtet, wenn sie durch großflächige Solaranlagen und Windräderanlagen denaturiert wird. Kein Geringerer als Immanuel Kant hat schon von einem „Anspruch des Menschen auf eine Natur, die ihn ästhetisch anspricht“, von einem unmittelbaren Interesse am Naturschönen, das er als „Wohlgefallen a priori“ definiert gesprochen[12]. Deshalb verdienen Überlegungen, wie mit Hilfe eines Kulturlandschaftsplanes auf lokaler Ebene Energie ökonomisch, sozial und ästhetisch verträglich erzeugt werden kann, besondere Beachtung. Zur Definition des Kulturlandschaftsplans. Darunter versteht der Fachmann „eine informelle Planung, die darauf abzielt, für den ländlichen Raum eine wirtschaftlich tragfähige Basis für die Erhaltung, Pflege und Entwicklung der Kulturlandschaft zu schaffen. Diese Basis soll den ländlichen Raum durch ein dezentrales Energiekonzept autark, ökologisch sowie CO²-neutral machen und den Energiepreis langfristig stabil halten“[13]. Das Konzept eines Hallenser Landschafts- und Umweltplaners schlägt vor, mit Hilfe bereits vorhandener Technologie die außerhalb bestehender Wälder vorhandenen Hölzer in Energie umzuwandeln und für die lokale Nutzung über Kraft-Wärme-Koppelung bereit zu stellen. Die Organisation dieser Nutzung und dauerhaften Pflege der Allmende-Ressourcen (Flurhölzer) sowie der Betrieb der technischen Einrichtungen sollen von der Dorfgemeinschaft erfolgen. Der wiederbelebte Gedanke der im Mittelalter wohlbekannten Allmende, d.h. der Gemeingüter (Commons)[14], hat neben dem ökonomischen Effekt auch eine starke soziale Bindungskraft. Dieser Wissenschaftler hat auf die positiven ökologischen Wirkungen hingewiesen, die mit der Nutzung und dauerhaften Pflege von Gehölzen in der Kulturlandschaft  auf diese Weise verbunden sind: u.a. Schutz des Dorfes vor Unwetter-Kollateralschäden, Schutz gegen Bodenerosion, Habitat für wildlebende Tiere und wildwachsende Pflanzen. Wie wir von dem  starken Anstieg der Energiegenossenschaften in Deutschland – von 66 im Jahre 2001 auf gegenwärtig rund 1.000  - wissen, ist diese Form der Energiegewinnung und –nutzung eine wirtschaftlich und soziale Alternative zu privatwirtschaftlichen und staatlichen Energieunternehmen geworden.
Die Quintessenz all dieser Gedanken: Global denken und lokal handeln, und dies nicht gegeneinander sondern miteinander. 

Ekkehard Henschke, Oxford/Berlin
(Stand: 16.03.2015; versandt)


[1] Vgl. Ulrich Beck, Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit. Frankfurt/Main 2007;                   Donella Meadows u.a., Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit. Stuttgart 1972.
[2] World Economic Forum Report 2015: http://knowledge.zurich.com/risk-interconnectivity/global-risks-2015-report/ (aufgerufen am 16.02.2015).
[3] Zu National Security Agency siehe Wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/National_Security_Agency.  Zu Government Communications Headquarters vgl. Wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Government_Communications_Headquarters (aufgerufen am 15.02.2015).
[4] Thomas Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert. München 2014, 3. Aufl.- Siehe dazu u.a. die Besprechung der englischen Ausgabe durch Jan-Otmar Hesse, New “fundamental laws of capitalism”. Thomas Piketty and Economic History. In: Vierteljahrschrift für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 101, H. 4, 2014, S. 500-  505.
[5] Wealth: Having it all and wanting more. OXFAM January 2015: http://www.oxfam.org/sites/www.oxfam.org/files/file_attachments/ib-wealth-having-all-wanting-more-190115-en.pdf (aufgerufen am 16.02.2015).
[6]  Vgl. Ekkehard Henschke, What has Vikram to do with India’s population explosion? In: MASALA. Newsletter, Jg. 7, Nr. 1, Januar 2012, S. 14-23.
[7]  Vgl. Wikipedia-Artikel: http://de.wikipedia.org/wiki/The_Giving_Pledge (aufgerufen am 16.02.2015).
[9]Vgl. Wikipedia-Artikel: http://de.wikipedia.org/wiki/Uwe_Schneidewind (aufgerufen am 16.03.2015).
[10]   Gerade erschienen in Deutsch: Naomi Klein, Die Entscheidung: Kapitalismus vs. Klima. Frankfurt/Main 2015.
[11] Nach ATTAC z.B. das Netzwerk Campact mit rund 1,6 Millionen Teilnehmern; https://www.campact.de/campact/ (aufgerufen am 15.02.2015). 
[12] Zitiert in H. Boehme, Natürliche Natur. In: Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 4, 2002, S. 487.
[13] Bernd Reuter, Der Kulturlandschaftsplan als Instrument der energetischen Autarkie. In: Energielandschaften gestalten. Leitlinien und Beispiele für Bürgerpartizipation. Bonn 2014, S. 26-38, bes. S. 26.
[14] Dazu u.a. die in der Nachfolge der Nobelpreisträgerin Elinor Ostrom entstandene Arbeit „Gemeingüter – Wohlstand durch Teilen; vgl. Silke Helfrich, Rainer Kuhlen, Wolfgang Sachs, Christian Siefkes“. Berlin 2010.

Dienstag, 20. Januar 2015

Neues Jahr mit alten Problemen



Die Medien scheinen Anfang diesen Jahres von den mörderischen Aktivitäten islamistischer Gruppen und den Aufmärschen von Bewegungen in Deutschland und Frankreich gegen Immigranten beherrscht zu sein.  Die Meinungsfreiheit gegen die Allmacht staatlicher „Fürsorge-„Organisationen, wie sich Geheimdienst heute darstellen, gilt es zu verteidigen. Pegida, Legida, Bärgida, Front National zwingen uns zum Nachdenken bringen, ob wir das gemeinsame europäische Haus weiter offen halten wollen. Deshalb sind die viel zahlreicheren Demonstrationen so wichtig, mit denen sich gleichzeitig Deutsche und Franzosen, auch hier in Großbritannien, Menschen gegen kleinbürgerliche, fremdenfeindliche Ressentiments zur Wehr setzen.  


Daneben sollte nicht aus den Auge gelassen werden: Die  wachsende Ungleichheit von Reichtum und deren soziale, politische und ökologische Folgen und Risiken. Ulrich Beck hat dieses akute Menschheitsproblem in der „Risikogesellschaft“ als Soziologe analysiert, Thomas Piketty hat es unlängst in „Das Kapital im 21. Jahrhundert“  mit Zahlenmaterial aufbereitet. In diesen Tagen hat OXFAM, die weltweit agierende Organisation zur Bekämpfung von Armut und Hunger, den politischen und Wirtschaftsführern, die in diesem Januar in Davos wieder zusammenkommen, eines der größten Probleme der Menschheit vorgehalten; vgl. 
http://www.oxfam.org/sites/www.oxfam.org/files/file_attachments/ib-wealth-having-all-wanting-more-190115-en.pdf
O-Ton Mark Goldring, OXFAM-Chef, 2014: „Inequality is one of the defining problems of our age. In a world where hundreds of millions of people are living without access to clean drinking water and without enough food to feed their families, a small elite have more money than they could spend in several lifetimes”.  Es ist nicht nur absurd, sondern inhuman und gefährlich, wenn die 80 reichsten Männer der Welt so viel besitzen wie fast 3,5 Milliarden Menschen (die Hälfte der Weltbevölkerung). In der Zeit des Elends des Zweiten Weltkrieges gegründet, hat sich OXFAM im Verbund mit den kritischen Medien zu einer Art Weltgewissen entwickelt und jetzt konkrete Vorschläge unterbreitet: U.a. Verlagerung der Steuerbelastung von Arbeit und Verbrauch zur Steuerbelastung von Kapital und Reichtum; Einführung von auskömmlichen Mindestlöhnen; Investitionen in allgemeine, freie öffentliche Versorgung mit Gesundheitsfürsorge und Bildung; globale Zielvereinbarungen zur Bekämpfung der Ungleichheit.

Dienstag, 6. Januar 2015

Ein neues Jahr – zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie bitte …



Leider ist die Stimme eines Menschenfreundes, der seit 30 Jahren mit sozialwissenschaftlichem Sachverstand Mut zur Lösung der Gegenwartsprobleme gemacht hatte, am Neujahrstag  verstummt: Der deutsche Soziologe Ulrich Beck (1944-2015) schrieb und mischte sich ein. Sein Buch über die „Risikogesellschaft“ von 1986 rüttelte die Welt angesichts der Katastrophe von Tschernobyl auf. Darin und in der „Weltrisikogesellschaft“ von 2007 versuchte er, Wege „auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit“ aufzuzeigen. Damit schuf er Zuversicht für all jene nachdenklichen Menschen, die in einer weltweit vernetzten Gesellschaft leben und angesichts der Risiken von Katastrophen atomarer, politischer und ökologischer Art  zu verzweifeln drohen. Der britische Soziologe Anthony Giddens bezeichnete Ulrich Beck als „den größten Soziologen seiner Generation“(http://habermas-rawls.blogspot.co.uk/2015/01/anthony-giddens-on-ulrich-beck-1944-2015.html).

Für mich ähnelt das Vermächtnis dieses Wissenschaftlers dem „Mythos des Sisyphos“, den der französische Denker Albert Camus mitten im Zweiten Weltkrieg veröffentlichte. Für kurze oder längere Zeit vermögen glücklicherweise die Musik und die schönen Künste unser Dasein zu verschönern.  Lasst uns zuversichtlich in die Zukunft schauen wie dieser kleine Kerl, den ich kürzlich im Museum  der Wiener Hofburg entdeckte.