Die Reise von Oxford
über Berlin und Leipzig zurück nach London und Oxford war in diesem Herbst eine
politisch und kulturell besonders an- und aufregende Veranstaltung. Politisch,
weil ich überall in Deutschland auf „den“ Brexit angesprochen wurde – und doch
nichts Genaueres über die Entscheidungsträger berichten konnte. Schließlich
erlebe ich in Großbritannien die unterschiedlichsten Reaktionen und Kommentare
in den Medien (Pro Brexit: u.a. The Times, The Daily Telegraph; contra Brexit: The
Guardian, I[ndependent]), die schließlich die Uneinigkeit über die Wege zum
Verlassen der EU in der britischen Regierung und im Parlament in Westminster
widerspiegeln. Eine klare Verhandlungsposition gegenüber den
Verhandlungspartnern in Brüssel sieht anders aus. Die Reaktionen der Londoner
Finanzwelt ist eindeutig für einen Verbleib in der EU, weil sie den Verlust
ihrer globalen Vorrangstellung befürchtet. Ganz ähnlich, aber etwas vorsichtiger
äußerte sich kürzlich die Chefökonomin des Industriellenverbandes CBI (weil sie
die Stimmung nicht selbst vermiesen wollte) über die Sorgen in den anderen
Wirtschaftssektoren des Vereinigten Königreichs. Das Problem Schottland ist
fast völlig in den Hintergrund gerückt. Dafür ist – neben der Höhe der offenen
Rechnung Großbritanniens - die Sorge um einen möglichen neuen Konflikt in den
Vordergrund getreten, wenn Nordirland mit Großbritannien aus der EU ausscheiden
und die angrenzende Republik Irland in der Europäischen Union verbleiben wird. In
der alten Universitätsstadt Oxford, die seit Jahrhunderten aus allen Ländern
qualifizierte Wissenschaftler angezogen hat, befürchtet eine große Mehrheit spätestens
2019 sowohl den Wegzug von EU-Akademikern als auch den Verlust von bisher
sprudelnden EU-Forschungsmitteln. Fairerweise muss ich aber auch die kritischen
Argumente von nachdenklichen Engländern wiedergeben, die auf die mangelhafte
Legitimierung der EU-Bürokratie ebenso verwiesen haben wie auf ihr Unbehagen, das
sie über den zunehmenden Verlust der britischen Souveränität innerhalb der EU
empfinden. Hoffen wir, dass mit dem französischen Präsidenten Macron die
notwendigen Reformen der EU angepackt werden. - Die Deutschen, die ich in
Berlin und Leipzig sprach, schüttelten immer wieder den Kopf: Wie kann man nur
aus einem so nützlichen gemeinsamen Markt aussteigen wollen? Wie kann eine
sonst so vom Common Sense geprägte Nation sich so etwas antun? Ist in den
britischen Köpfen nach zwei Weltkriegen die verbindende Idee der europäischen Schicksals-
und Friedensgemeinschaft überhaupt angekommen? Vielleicht kommt man beim
Grübeln über diese britische Gegenwartsmisere auf die Absurde in den Stücken
von Samuel Beckett, dem großen Iren. Oder man versucht es mit der
Interpretation der Aufforderung, die ich heute in dem OXFAM-Buchgeschäft in
Oxford las: „Take my advice, I’m not using it.“
In der deutschen Universitäts-
und Messestadt Leipzig macht man sich zwar auch Gedanken, wie es mit der
rechtslastigen Alternative für Deutschland (AfD) weitergehen wird, nachdem sie
erst in fast alle Landesparlamente und zuletzt in den Bundestag eingezogen ist.
Aber im Gegensatz zu Dresden scheint man in Leipzig viel stärker immun
gegenüber Rechts zu sein. In Leipzig blüht neben dem bürgerschaftlichen
Engagement, seit 2002 verstärkt durch die Stiftung „Bürger für Leipzig“, eine
Vielfalt sozialer und ökologischer Projekte. Und auf künstlerischem Gebiet können
die Leipziger sehr gut mit den Dresdenern konkurrieren: So ist neben dem
wiederbelebten Ballett unter Mario Schröder, der das Erbe des früh verstorbenen
Uwe Scholz 2010 aufnahm, das Gewandhausorchester zu nennen. Es wird – leider mit
Verzögerung - im Frühjahr 2018 in dem Letten Andris Nelsons einen würdigen
Nachfolger von Riccardo Chailly haben. Der unermüdliche Ehrendirigent Herbert
Blomstedt, der seinen 90. Geburtstag feiern konnte, meistert derweil eine große
Tournee. Und das MDR-Sinfonieorchester hat bereits seit 2012 mit dem Esten Kristjan
Järvi einen kompetenten Dirigenten gefunden. Auch an diesen beiden Beispielen
sieht man, welchen – auch musikalischen - Gewinn die Europäische Union mit den
baltischen Staaten erlebt.
Last but not least: Ein
aktuelles Erlebnis war für mich und viele andere der Tag der Bibliotheken, der
dieses Mal am 24. Oktober in Leipzig gefeiert wurde: Die Universitätsbibliothek
Leipzig, immerhin schon 1543 gegründet, wurde als „Bibliothek des Jahres 2017“
ausgezeichnet. Als ihr ehemaliger Direktor konnte ich mich mit den Kolleginnen
und Kollegen darüber sehr freuen. Was unter den Schlagwörtern „digital autonom,
frei zugänglich und innovationsstark“ so gelobt wurde, ist im Internet
ausführlich nachzulesen: http://www.bibliotheksverband.de/dbv/auszeichnungen/bibliothek-des-jahres/preistraeger/2017.html
Damit ist es dieser ostdeutschen
Universitätsbibliothek, die mit ihrem Hauptgebäude, der Bibliotheca Albertina,
lange Jahre in der DDR-Zeit ein Kümmerdasein führen musste, gelungen, sich
sowohl baulich und technisch als auch organisatorisch als eine der führenden
deutschen Bibliotheken zu etablieren.
02.11.2017
Ekkehard Henschke,
Oxford/Berlin