Heute, am 15.April 2016, hat in Großbritannien die
Kampagne um den sogenannten BREXIT begonnen. In dem Referendum am 23. Juni entscheiden die Briten, ob das Vereinigte Königreich in der Europäischen Union bleiben soll oder nicht. Gegenwärtig liegen die Chancen dafür bei etwa
50 : 50 - bei leichten Vorteilen für die Brexit-Befürworter, also für einen Austritt.
Die Wogen in der Öffentlichkeit gehen hoch (vgl. z.B.
den Stimmungsbericht von J. F. Jungclausen in ZEIT-ONLINE vom 15.04.2016:
http://www.zeit.de/2016/15/brexit-eu-grossbritannien-wales-referendum-landwirtschaft-schafzucht).
Die konservative Presse (voran „THE DAILY TELEGRAPH“) unterstützt den
Oberbürgermeister von London, Boris Johnson, der sich – zusammen mit vier
Mitgliedern der konservativen Regierung – an die Spitze der EU-Kritiker gesetzt
hat. Insulare Selbständigkeitswünsche (möglicherweise auch Erinnerungen an das
Empire), Ängste vor zu vielen Einwanderern und scheinbar pfiffige Gewinn- und
Verlustrechnungen werden dabei vermengt mit der Abneigung gegen „Fremdbestimmung“
aller Art, die aus der Brüsseler Bürokratie und von der Straßburger Gerichtsbarkeit kommen.
So vermengt Johnson im offenen Duell mit dem „befreundeten“ David Cameron in seiner
geschickten Polemik die Forderung nach dem Austritt mit der
Forderung, den jährlichen EU-Beitrag Großbritanniens einzusparen. Er schlägt im
heutigen Daily Telegraph vor, diesen Betrag von 13 Milliarden Pfund für die Finanzierungslücken des britischen Gesundheitssystems „National
Health Service“ (NHS) zu verwenden. Ihm kommt zugute, dass „rein zufällig“
ebenfalls heute wieder neue Hiobsbotschaften über den NHS laut geworden sind (stark
gestiegene Defizite, unzumutbare Wartezeiten der Patienten auch in
Notfällen). Darüber berichtete auch die liberale und linke Presse (voran „THE GUARDIAN“) immer wieder, die für einen Verbleib Großbritanniens in der EU
eintritt. Diese Medien hatten Mühe, den unbequemen Führer der Labour Party,
Jeremy Corbyn, dafür zu gewinnen, sich für den Verbleib einzusetzen. Mit
Ausnahme von vier Ministern plädiert die britische Regierung unter dem anfangs
wankelmütigen David Cameron ebenfalls für den Verbleib in der EU. Maßgebliche
Kreise der Wirtschaft und auch die Bank of England warnen seit Monaten vor den
ökonomischen Folgen eines Austritts, die durch die Unsicherheit über den Ausgang des Referendums schon jetzt
sichtbar wären. So ergibt sich eine merkwürdig schwache und zugleich „unheilige“
Allianz aus Wirtschaft (besonders Finanzwirtschaft), uneinheitlicher Regierung
und Opposition, die sich primär aus ökonomischen Gründen gegen den Brexit ausspricht.
Was den Beobachter vom Kontinent, der gegenwärtig
von schwächelnden Volkswirtschaften (außer Deutschland) sowie von EURO-,
Griechenland- und Flüchtlingsproblemen reichlich geplagt ist, besonders
irritiert, sind zwei Aspekte: Erstens, dass in der britischen Diskussion die
geopolitischen Gefahren Europas (Ukraine-Konflikt mit Russland, IS-Terror)
ebenso aus den Augen verloren wurden wie die regionalpolitischen Konflikte (Separationswünsche
Schottlands, Katalonien). Zweitens, dass
in den britischen Medien fast ausschließlich die wirtschaftlichen und sozialen
Aspekte des Brexits, nicht aber die Fragen einer europäischen Identität nach
Jahrhunderten der Kriege und Feindschaften diskutiert werden. Da erfreut es den
Beobachter besonders, wenn er auf einzelne Stimmen stößt, die genau auf diesen
Punkt hinweisen. Dazu gehört der ehemalige Banker und Handelsminister der liberal-konservativen
Regierung Stephen Green. Er hat jüngst (The European Identity. Historical and
cultural realities we cannot deny. London 2015) die Besinnung auf die
gemeinsame, oft traurige europäische Geschichte eingefordert, in deren Verlauf dem
europäischen Haus so viele kulturelle Glanzlichter (Philosophen, Komponisten,
Künstler, Wissenschaftler) aufgesetzt wurden. Letztlich folgt daraus die
Forderung: Einigkeit macht stark. Um im Bild zu bleiben: Wenn beide Teile des
europäischen Hauses, der kontinentale wie der insulare Teil, gegenwärtig von mehreren Stürmen bedroht sind,
kann man nicht einfach ausziehen. Also gilt es, weiterzuarbeiten an diesem Generationenwerk
und die vorhandenen Baustellen (einheitliche Wirtschafts-, Sozial- und Außenpolitik,
Bürokratieabbau) schnellstmöglich zu reparieren.
15.04.2016
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