Seit dem Referendum über den Ausstieg Großbritanniens aus
der Europäischen Union, den im Jahre 2016 52 % der wählenden Briten befürworteten,
aber immerhin 48 % ablehnten, ist ein Machtkampf zwischen der Exekutive und der
Legislative entbrannt. Zur Erinnerung: Die Parteivorsitzende der Konservativen
und Premierministerin Theresa May, die in diesen Ämtern bestätigt worden war,
konnte ein mühsam mit der EU-Kommission ausgehandeltes Ausstiegsabkommen im
Unterhaus nicht durchbringen. Die EU-Staaten hatten es akzeptiert, das
britische Unterhaus lehnte es mehrmals ab. Knackpunkt war stets das Bestehen
der Mehrheit auf der vollen Rückgewinnung der Souveränität Großbritanniens. Der
„Backstop“, die Versicherung, dass Nordirland beim Brexit keine harte Grenze
zur Republik Irland haben sollte, war als Problem nicht zu lösen. Darüber
stürzte May. Der erzkonservative Abgeordnete und zeitweise Außenminister der
Regierung May, Boris Johnson, übernahm
die Regierung mit dem ausdrücklichen Versprechen, Großbritannien bis zum 31.
Oktober 2019 aus der EU herauszuführen, einen Brexit auch ohne ein Abkommen mit
der EU durchzuführen.
Heute, am 09.09.2019, versucht das Unterhaus erneut, eine
Lösung zu finden. Es geht um die Neuwahl des Parlaments vor dem 31.Oktober, was
eine Zweidrittelmehrheit voraussetzt. Das wäre eine Begründung für die
Verschiebung des Austritts, die jedoch von Johnson abgelehnt wird. Die stärkste
Opposition, die Labour Party, ist in der Frage des Brexit gespalten. Immerhin
konnten sich parteiübergreifend die Parlamentarier auf ein Gesetz einigen, das
es Johnson verbietet, ohne ein Abkommen mit der EU den Brexit ab 31.Oktober zu
vollziehen.
Die Zeit für eine Einigung läuft heute, am 09.09.2019, aus. Ab
Morgen wird das Unterhaus aufgrund einer Anordnung des Premierministers in einer
vierwöchigen Parlamentspause sein, also nicht mehr handeln können.
Anzeige im DAILY TELEGRAPH vom 09.09.2019
Inzwischen gibt es auch unter den EU-Regierungen verstärkt
den Wunsch, den Austritt Großbritanniens über den 31. Oktober hinaus nicht zu
akzeptieren. Im DAILY TELEGRAPH von heute, 09.09.2019, hat die britische
Regierung eine ganzseitige Annonce geschaltet, die an Deutlichkeit nicht zu
übertreffen ist. Nebenbei bemerkt: Es handelt sich um die große konservative
Zeitung, in der Johnson bisher seine entsprechenden Kolumnen gegen ein hohes
Salär geschrieben hat. Und noch eins: Vor etwa 400 Jahren kämpfte schon einmal
ein Monarch um die Macht mit dem Parlament. König Charles I. löste einen
Bürgerkrieg in Großbritannien aus und verlor buchstäblich den Kopf.
Ob Boris Johnson, der zusammen mit seinem Berater Dominic
Cummings, ohne Verlust seines Amtes diesen Drahtseilakt durchführen kann, also
noch abstürzen wird? Das ist auch eine Schicksalsfrage für die britische
Demokratie mit einer machtlosen Königin an der Spitze. Sicher ist schon jetzt
der wachsende Schaden für die britische und irische Wirtschaft, aber auch für
das britische Gesundheits- und Wissenschaftssystem, alle sind auf den
personellen „Blutaustausch“ mit der Europäischen Union angewiesen. Die 27
anderen EU-Staaten verlieren beim Brexit ebenfalls, vor allem den kritischen
Partner bei der notwendigen Reform der Union. Der menschliche und politische
Schaden bei der Wiederaufrichtung von Grenzen, einer neuen „Splendid
Isolation“, ist nicht einmal zu kalkulieren. Ein Brexit ohne Einigung über die
Modalitäten wird angesichts der engen Verflechtung Großbritanniens mit der EU
jedoch zumindest zeitweise ein Chaos auslösen.
09.09.2019
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